Geschichte der Industriekultur
Frühindustrialisierung
Die sich seit dem späten Mittelalter in der Lausitz, dem Erzgebirge und im Vogtland herausgebildeten Gewerberegionen bieten gute Startbedingungen für die Industrialisierung in Sachsen. Im Bergbau, der Rohstoffverarbeitung oder in der Textilherstellung sind Arbeitsteilung und unternehmerisches Handeln bereits weit fortgeschritten. Sachsen ist in den europäischen und transatlantischen Handel eingebunden. Es liefert Textilien, Metall- und Holzwaren sowie Musikinstrumente in alle Welt. Durch Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft kann die wachsende Bevölkerung ernährt werden.
Erste Fabriken
Das maschinelle Verspinnen von Garn ist ein entscheidender Schritt hin zur industriellen Produktionsweise. Die sächsischen Spinnmühlen gehören zu den ersten modernen Fabriken auf dem europäischen Kontinent. Hauptmotive für Unternehmer, gerade hier ihre Fabriken zu errichten, sind die sächsische Gewerbelandschaft mit ihren Textilzentren, bestehende Marktbeziehungen und die Wasserkraft als Energiegrundlage. 1814 existieren in Südwest-Sachsen 86 Baumwollspinnereien. Genutzt werden Technologien und Erfahrungen aus England. Reparatur und Bau der ersten Maschinen sind die Wurzeln des sächsischen Maschinenbaus.
Kohle & Dampf
Die in den Kleinrevieren um Zwickau, Oelsnitz und Freital geförderten Steinkohlen sind Energiegrundlage für die weitere Industrieentwicklung. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden Steinkohlen im großen Stil abgebaut und über ein dichter werdendes Eisenbahnnetz an Fabriken abgesetzt. Die Dampfmaschine löst die Wasserkraft ab.
Aus Kohle wird auch Leuchtgas gewonnen. Deutschlands erste gasbetriebene Straßenlaterne geht 1811 in Freiberg in Betrieb. In Dresden wird 1828 eine öffentliche Gasbeleuchtung eingeführt, Leipzig folgt 1838.
Ernährung & Genussmittel
Sachsen ist ein wichtiger Markt und Standort für die Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Im ganzen Land entstehen Mühlenbetriebe und Großbrauereien. Dresden und Leipzig entwickeln sich zu Zentren der Schokoladenindustrie. Die 1823 gegründete Schokoladenfabrik von Jordan & Timäus in Dresden gilt als die erste in den deutschen Staaten. Dresden wird ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch ein Zentrum der Zigarettenindustrie.
Eisenbahnzeitalter
Im Wettstreit um eine zeitgemäße Verkehrsanbindung hat Sachsen die Nase vorn. Auf Initiative Leipziger Großkaufleute wird zwischen Leipzig und Dresden 1839 die erste deutsche Ferneisenbahn in Betrieb genommen. Der sächsische Staat schafft für den Bau die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen - zur Finanzierung zeichnen Privatanleger Aktien im Wert von 1,5 Millionen Taler. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ist Sachsen in das Ferneisenbahnnetz eingebunden. Nach weiterem Ausbau besitzt Sachsen Ende des 19. Jahrhunderts eines der dichtesten Eisenbahnnetze.
Durchsetzung des Fabrikbetriebes
Die Textilindustrie ist aufgrund ihrer Größe, Vielfalt und Beschäftigtenzahl Sachsens wichtigster Wirtschaftszweig. Mit weiterer Ausdifferenzierung und Durchsetzung der Maschinenarbeit wird sie zur Fabrikindustrie mit einer vielfältigen Zulieferindustrie. Die ersten überwiegend aus England stammenden Maschinen werden zunächst in Lizenz nachgebaut. In den Zentren der Textilindustrie entwickeln sich aus Werkstätten bedeutende Maschinenbauunternehmen.
Industriestädte
Der Leipziger Unternehmer erwirbt im Leipziger Westen systematisch Bauland und schafft die Infrastruktur für die wachsende Stadt und Industrieansiedelungen. Bis in die 1880er Jahre entsteht in Leipzig-Plagwitz ein geschlossener Industrieort mit Fabriken, Arbeiterwohnungen, Unternehmervillen, Handel, Kirchen, Schulen und Vergnügungsorten. Ende des 20. Jahrhunderts ist Plagwitz Inbegriff des Strukturwandels in Industriestädten und der gelungenen Revitalisierung von Industriebrachen.
Gewerbefreiheit
Die neue Gewerbeordnung ist formeller Abschluss des bereits weit fortgeschrittenen Modernisierungsprozesses in der Wirtschaft, durch den die überkommene Gewerbeverfassung bereits unterhöhlt ist. Sie setzt den rechtlichen Rahmen für eine industriekapitalistische Wirtschaftsordnung.
Industriestadt Chemnitz
In enger Verbindung zur Textilindustrie siedeln sich insbesondere im Raum Chemnitz Unternehmen des Textil- und Werkzeugmaschinenbaus an. In den 1860er Jahren setzt sich im Maschinenbau der Fabrikbetrieb durch. Die weitere Entwicklung ist geprägt von Betriebsvergrößerungen, Spezialisierungen und Arbeitsteiligkeit.
Konsum & Genossenschaftsidee
Die Genossenschaftsidee wird in Sachsen besonders gelebt. Bereits 1850 wird im heutigen Sachsen mit der Eilenburger Lebensmittelassociation die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands gegründet. In Sachsen entstehen auch zahlreiche Produktionsstätten für den Zentraleinkauf der deutschen Konsumgenossenschaften. Der Consum-Verein Plagwitz und Umgebung entwickelt sich bis in die 1920er Jahre zur größten Konsumgenossenschaft Deutschlands. 1896 eröffnen die Brüder Ury das erste Leipziger Warenhaus; der dort angestellte Salman Schocken gründet 1904 in Zwickau den Warenhauskonzern Schocken.
Wissenschaftsstadt Dresden
Mit Bedeutungsgewinn wissenschaftsbasierter Innovationen entwickelt sich Dresden zu einem Zentrum der chemischen, feinmechanischen und elektrotechnischen Industrien. Diese stehen in enger Beziehung zur 1828 gegründeten Technischen Bildungsanstalt zu Dresden (heute TU Dresden). Absolventen der Ingenieursschmiede gründen ab 1845 die Uhrenindustrie in Glashütte. Die Ernemann-Werke entwickeln sich zum bedeutendsten Unternehmen der Dresdner Kamera- und Filmprojektorenindustrie. Die 1888 gegründete Firma Lingner & Kraft prägt mit dem Mundwasser Odol das moderne Produktmarketing.
Energie & Verkehr
Die wachsende Stadtbevölkerung braucht Wohnraum und muss versorgt werden. Versorgungsunternehmen schaffen eine moderne Infrastruktur und sind ein Wirtschaftsfaktor. Neue Technologien, wie die Elektrizität, verändern das Leben. Elektrische Straßenbahnen gibt es ab 1893 in Chemnitz und Dresden, 1894 in Zwickau und 1896 in Leipzig. Zur städtischen Infrastruktur gehören außerdem Gas- und Elektrizitätswerke, die Wasserversorgung, Schlachthöfe und Markthallen.
Handelsstadt Leipzig
Mit Entwicklung der Mustermesse wird die Leipziger Warenmesse den Bedürfnissen des Industriezeitalters angepasst. Die nach Vorbild des Städtischen Kaufhauses ab 1895 errichteten Messepaläste und die 1920 eröffnete Technische Messe bieten die passende Infrastruktur. Leipzig knüpft so an seine Messetradition an und etabliert sich als einziger internationaler Messestandort in Deutschland. Unbestritten ist auch die Bedeutung Leipzigs als Zentrum der polygraphischen Industrie, des Buchhandels und der Buchgestaltung, zu dem sich die Stadt im 19. Jahrhundert weiterentwickelt.
Automobilstadt Zwickau
August Horch ist der bekannteste der zahlreichen Pioniere, die im Autoland Sachsen zwischen Zittau und Plauen alle Arten von Fahrzeugen herstellen. Mit Unterstützung sächsischer Unternehmer verlegt Horch 1902 sein Unternehmen zunächst von Köln nach Reichenbach in Sachsen. Ab 1904 firmiert es dann in Zwickau als August Horch & Cie. Motorenwagen AG.
Soziale Reformen
Vor dem Ersten Weltkrieg ist Sachsen eine der am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Bevölkerungswachstum und Urbanisierungsprozesse fordern Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Architekten heraus. Die Reformbewegung um 1900 hat hier eines ihrer Zentren. Neue Arbeits- und Wohnmodelle werden entwickelt. Die Hygieneerziehung und das Schaffen von bezahlbarem, hygienischem Wohnraum sind Themen der Zeit.
Kriegswirtschaft
Der Erste Weltkrieg macht deutlich, wie stark die sächsische Wirtschaft von Export und freiem Handel abhängig ist. In der Kriegs- und Autarkiewirtschaft stellt fast jede dritte sächsische Fabrik den Betrieb ein. Die übrigen stellen nun Kriegsgüter her. Folgenreich ist der Aufbau der Mineralölgewinnung aus Braunkohle südlich von Leipzig. Die Standorte der Kohlechemie werden Teil des mitteldeutschen Chemiedreiecks. Ab 1917 errichtet das Deutsche Reich in der Niederlausitz ein Aluminiumwerk. Das Lautawerk bezieht seine benötigte Energie aus der Verstromung von Braunkohle, der Braunkohlenbergbau in der Region wird ausgeweitet.
Elektrifizierung des Landes
Mit dem Aufbau einer landesweiten Elektrizitätsversorgung wird die Dampfkraft in den Fabriken durch die Elektrizität abgelöst. Der Freistaat Sachsen nimmt die landesweite Stromversorgung frühzeitig in die Hand. Die landeseigene Aktiengesellschaft Sächsische Werke (ASW) betreibt Braunkohlenkraftwerke und baut zwischen den Kraftwerken Hirschfelde im Osten und Böhlen im Westen ein Hochvoltnetz zur Landesversorgung auf.
Weltwirtschaftskrise
Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise fusioniert die sächsische Automobilindustrie zum ersten staatlichen Automobilkonzern: der Auto-Union AG. Beteiligte Unternehmen sind die Horch-Werke AG Zwickau, die Audi-Werke Zwickau AG, DKW, die Autosparte von Wanderer sowie die Zschopauer Motorenwerke J.S. Rasmussen AG. Unternehmenssitz ist Chemnitz.
Enteignung jüdischer Unternehmer
Trotz ihres geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung, der starken antijüdischen Haltung und zunehmendem Antisemitismus prägen jüdische Unternehmer die sächsische Wirtschaft mit. Nach ihrer rechtlichen Gleichstellung ab 1849 engagieren sie sich im Bankwesen, Handel und der Textilindustrie. Durch Boykotte und Prozesse werden jüdische Unternehmer bereits vor der „Arisierung“ unter Druck gesetzt. Seit der Enteignung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Deutschen durch das NS-Regime gibt es in Sachsen kein nennenswertes jüdisches Unternehmertum mehr.
Rüstungsproduktion
Durch den Ausbau der Rüstungswirtschaft wird die traditionelle Konsumgüterherstellung geschwächt. Die Umstellung der sächsischen Wirtschaft auf die Kriegswirtschaft konzentriert sich auf die Flugzeug-, Fahrzeug- und feinmechanisch-optische Industrie sowie die Munitionsherstellung. Mit Ausbau der Kohlechemie entwickelt sich Nordwestsachsen zu einer Grundsäule der Treibstoffversorgung im Zweiten Weltkrieg. 1944 sind rund 20 Prozent der Industriebeschäftigten in Sachsen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.
Sozialistische Planwirtschaft
Durch Demontagen, Enteignungen und Unternehmensverlagerungen wird die sächsische Wirtschaft geschwächt. Bis 1972 wird die Wirtschaft in mehreren Enteignungswellen verstaatlicht. Schätzungsweise 20.000 sächsische Unternehmen siedeln sich nach 1945 in Westdeutschland an. Mit ihnen verliert Sachsen Unternehmer, Ingenieure, Facharbeiter, aber auch berühmte Marken.
Wirtschaftswunder Ost
Das bis 1990 gebaute Fahrzeug gilt als Symbol der Massenmotorisierung in der DDR. Mangels Stahlblech entwickeln Zwickauer Ingenieure für den Kleinwagen eine Kunststoffkarosse. Aufgrund politischer Einflussnahme und mangelnder Investitionen verliert die Fahrzeugindustrie ab Ende der 1960er Jahre ihre Leistungsfähigkeit und technisch den Anschluss an die internationale Entwicklung. Die Automobilindustrie wird zunehmend zum Symbol für das Scheitern der Staatsplanwirtschaft und Mangelwirtschaft.
Automatisierung
Im Vergleich zu altindustriellen Regionen in Westeuropa vollzieht sich der Strukturwandel in der sächsischen Wirtschaft langsamer. Mit erschöpften Lagerstätten wird der Steinkohlenbergbau eingestellt. Altindustrien wie die Textilindustrie bestehen weiter, neue Industrien entstehen. Mitte der 1950er Jahre werden in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen entwickelt und weltweit erfolgreich abgesetzt. Mit der zwischen 1963 und 1968 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) entwickelten Datenverarbeitungsanlage Robotron 300 wird der Grundstein der sächsischen Mikroelektronik gelegt.
Technologietransfer
Im geteilten Deutschland bieten Joint Ventures die Möglichkeit für Zusammenarbeit und Technologietransfer. Als Lizenzfertigung werden in Mosel bei Zwickau Viertaktmotoren für Volkswagen hergestellt. Im Jahr der deutschen Einheit ist dieses Engagement Grundlage für die Gründung der Volkswagen-Tochter VW Sachsen GmbH im Jahr 1990. Mit der Errichtung weiterer Produktionsstätten auch durch andere Unternehmen wird der Automobilbau innerhalb von 20 Jahren zur wesentlichen Säule des produzierenden Gewerbes.
Soziale Marktwirtschaft
Die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft ab 1990 stellt die stärkste Zäsur in Sachsens Wirtschaftsgeschichte dar. In einer Zeit steigender Arbeitslosenzahlen, dem Verschwinden von Großindustrie und der Abwanderung vor allem junger Sachsen gibt die Beschäftigung mit Industriekultur einen gewissen Halt. Wichtiger Akteur bei der Sicherung von Sachzeugen des Industriezeitalters und der Begleitung des Strukturwandels ist das Sächsische Industriemuseum in Chemnitz mit den seit 1998 im Zweckverband Sächsisches Industriemuseum zusammengeschlossenen Museen.
Stadt- und Landschaftsumbau
Energiegrundlage für die sächsische Industrie ist bis 1990 die Braunkohle. Die Braunkohlenindustrie hinterlässt Umweltzerstörungen in großem Ausmaß. Seit Anfang der 1990er Jahre werden diese beseitigt. Damit verbunden ist ein großflächiger Landschaftsumbau von einer Industrie- in eine Freizeitlandschaft. Nach Einstellung der Braunkohlenförderung im Jahr 1992 wird der Tagebau Cospuden zu einem See umgestaltet. Gemeinsam mit dem Stadtumbau des Industrieviertels Leipzig-Plagwitz ist dieser Umbau von Industriefolgelandschaften Referenzprojekt der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover.
Neue Industrien
Mit der Ansiedelung von Unternehmen der Halbleiter- und Photovoltaikindustrie wird Sachsen zu einem Zentrum dieser Hochtechnologien. Die im Netzwerk Silicon Saxony zusammengeschlossenen Unternehmen und Forschungsinstitute bieten im Raum Dresden/Freiberg rund 35.000 hochqualifizierten Menschen Beschäftigung. Durch die im Jahr 2000 gestartete Biotechnologie-Offensive entwickelt sich Sachsen mit den Zentren Dresden und Leipzig außerdem zu einer der dynamischsten Biotechnologie-Regionen Deutschlands.
Kreativwirtschaft und Industrie 4.0
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist ein wachsender Wirtschaftsfaktor. Kreative besetzen Räume, die im wirtschaftlichen Strukturwandel der 1990er Jahre brach fielen und schaffen innovative Nutzungsmöglichkeiten für ehemalige Industriegebäude. Sie entwickeln neue Arbeits- und Lebensmodelle in der sich wandelnden Industriegesellschaft.