Rezension: Aufbruch, Abbruch und ein langer Neubeginn
Ab dem Jahr 1955 entstand zwischen Spremberg und Hoyerswerda der Industriekomplex „Schwarze Pumpe“, der die DDR maßgeblich mit Strom, Stadtgas, Briketts und Koks versorgte und schon bald einen zentralen Baustein innerhalb der Schwerindustrie des Landes darstellte. Das Großprojekt zog Arbeitskräfte aus der gesamten DDR in die beschaulichen Kleinstädte der Niederlausitz. Mehr als 16.000 Menschen arbeiteten im einstigen Energiekombinat. Viele weitere zehntausend Menschen fanden Beschäftigung in den umliegenden Tagebauen, dem Wohnungsbau sowie den notwendigen Versorgungsbetrieben. Insbesondere die Kleinstadt Hoyerswerda wurde zur Wohnstadt von „Schwarze Pumpe“ ausgebaut. Die Bevölkerungszahl erhöhte sich zwischen 1955 und 1981 von 7.500 auf mehr als 71.000 Einwohner*innen. Hoyerswerda wurde zum Experimentierfeld der Großblockbauweise und gilt bis heute, neben Eisenhüttenstadt, als zweites Denkmal sozialistischen Städtebaus.
Das 3-Schicht-System in „Schwarze Pumpe“ bestimmte Alltag und Lebensrhythmus in „Hoy“. Die einstigen „Kinder von Hoy“, die in den 1960er und 1970er in Hoyerswerda aufwuchsen und als Jugendliche und junge Erwachsene das Ende der DDR in der Niederlausitz erlebten, erzählen in Lemkes Roman davon. Die Autorin hat dafür Stimmen und Erinnerungen von Freund*innen und Bekannten eingesammelt und mit ihren eigenen Gedanken zu einem kollektiven Erinnerungsstrom verwoben, der, durch weitere Erzählpassagen in einen größeren Rahmen gestellt, das spannende Porträt einer Generation entwirft, die im 3-Schicht-Rhythmus sowie im Kollektiv der Wohnkomplexe aufwuchs und in den 1980er Jahren versuchte, die Monotonie durch Kreativität zu brechen. Inspiriert von der „Brigade Feuerstein“ um Gerhard Gundermann experimentierten die „Kinder von Hoy“ nachts mit dadaistisch-orientierter Kunst im sog. „Kellerclub“ und fuhren bald schon früh morgens selbst mit den Buskolonnen zur Schicht nach „Pumpe“.
Auf den Aufbruch folgten Abbruch, Umbruch und ein langer Abschied, aus dem eine Art Neubeginn erwuchs. Mit dem Ende der DDR wurde das Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ abgewickelt. Schließungen, Abriss und Rückbau prägten das Bild. Fast eine ganze Region wurde arbeitslos oder in den Vorruhestand versetzt. Bis 2015 halbierte sich die Bevölkerung in Hoyerswerda nahezu. Aus dem Zukunftsprojekt wurde über Nacht eine Region ohne Zukunft. „Die Kinder von Hoy“ mussten sich neu orientieren und entscheiden. Nicht ohne Grund trägt das Buch den Untertitel „Freiheit, Glück und Terror“. Sollte man gehen und anderswo sein Glück suchen oder sollte man in der Stadt, die nie fertig wurde und dennoch Heimat geworden war, bleiben? Sollte man resignieren oder sich (weiter) engagieren? Plötzlich taten sich Gräben auf und die einstigen Freunde und Schulkameraden standen sich, ohne genau sagen zu können, wie es dazu gekommen war, in linken und rechten Gruppierungen gegenüber. Lemkes Protagonisten fühlten sich haltlos und überfordert. Sie flüchteten sich in belanglos erscheinende Kunstaktionen und sahen fassungslos mit an, wie in ihrer Stadt im September 1991 tagelang Ausländerwohnheime angegriffen wurden und sich nicht wenige Einwohner*innen an den rassistischen Ausschreitungen beteiligten. Erst als die Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und Mosambik mit den Schichtbussen aus der Stadt gefahren wurden, beruhigte sich die Situation. Viele Fragen und Schuldgefühle blieben.
Bis heute, so zeigt Lemke, prägen diese Aufbrüche, Umbrüche, Abbrüche und Ausbrüche die Stadt. Die „Kinder von Hoy“ sind ihrer Heimatstadt in Teilen bis heute verbunden. Das machen insbesondere die im Dialekt gehaltenen Gesprächs- und Erzählpassagen deutlich. Gemeinsam mit einer neuen Generation haben es sich einige von ihnen zur Aufgabe gemacht, nach vorne zu schauen und zugleich die Erinnerungen an die Vergangenheit wachzuhalten. Grit Lemke leistet mit ihrem dokumentarischen Roman einen wichtigen Beitrag dazu.
Peter Hausdorf
Referent Bildende Kunst und Industriekultur
Kulturstiftung des Freistaates Sachsen